Freitag, 16. Oktober 2015

Polens mirakulöser Aufstieg in der globalen Wertschöpfungskette



Krakau gilt als Vorzeigestadt der aufstrebenden Outsourcing- und IT-Branche. (Bild: John Guillemin / Bloomberg)

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Norm DePeau begrüsst ganz im Stil des amerikanischen Managers: zupackend, nicht um Worte verlegen, mit optimistischem Grundton. Es laufe ausgezeichnet am Standort von Cisco in Krakau, erklärt er. Der US-Netzwerk-Spezialist hat die Belegschaft in der südpolnischen Stadt allein im vergangenen Jahr auf 900 Mitarbeiter verdoppelt. Cisco findet hier offenbar viel, was gut zu «amerikanischen» Werten passt. DePeau lobt etwa die hohe Arbeitsmoral und den weitverbreiteten Unternehmergeist.
Hotspot für Ansiedelungen
Der Krakauer Standort ist für Cisco zum einen ein klassisches Shared-Service- Center (SSC). Die Mitarbeiter kümmern sich um firmeninterne Dienstleistungen: In modernen Büroräumlichkeiten erledigen sie für den Gesamtkonzern Teile des Finanz- und Rechnungswesens, der Immobilienbewirtschaftung oder des Personalwesens. Zum andern verfügt Cisco in Krakau über ein starkes technisches Standbein: Ingenieure entwickeln für Kunden Netzwerklösungen, oder sie überwachen als eines von drei globalen Zentren die Stabilität der Computernetzwerke von Firmenkunden.
Cisco befindet sich in bester Gesellschaft. Krakau hat sich zu einem Hotspot für Outsourcing- und IT-Zentren entwickelt. Zahlreiche westliche Konzerne haben hier ein Shared-Service-Center angesiedelt. Aus der Finanzwelt sind es etwa die Schweizer Bank UBS oder die angelsächsischen Finanzfirmen State Street, HSBC oder Citibank. Aus der übrigen Wirtschaft zählen Lufthansa, Electrolux, Shell, Heineken oder Accenture dazu. Krakau gewinnt zudem als Standort für Forschung und Entwicklung an Bedeutung. ABB betreibt hier ein Forschungszentrum. Ebenfalls Produkte entwickeln Motorola und Samsung.
Von Kosten und Clustern
Der Outsourcing- und IT-Sektor wächst rasant. Um 20% pro Jahr steige die Zahl der Arbeitsplätze, erklärt Andrew Hallam von der Branchen-Dachorganisation Aspire. Seit 2010 habe sich die Beschäftigung von 16 000 auf rund 45 000 Personen erhöht. Krakau gilt damit als Vorzeigestadt der aufstrebenden Branche. Aber der Boom erstreckt sich längst auch auf andere polnische Städte.
Im benachbarten Wroclaw (Breslau) betreibt etwa die Credit Suisse ein grosses Shared-Service-Center . Jüngst hat sich die nördliche Hafenstadt Danzig als dynamischer Standort etabliert . Die Hauptstadt Warschau ist ohnehin attraktiv, und auch in kleineren polnischen Städten wie Katowice (Kattowitz) vermag man sich ein Stück vom Kuchen abzuschneiden. Polen ist so zum wichtigsten Outsourcing-Standort in Europa aufgestiegen. Umgekehrt hat der polnische Erfolg eine Kehrseite: Er bedeutet, dass viele Büroangestellte in Städten wie Zürich, London, Frankfurt oder Dublin überflüssig werden.


Was zieht so viele westliche Firmen nach Krakau – und generell nach Polen? Eoin McCoy ergründet diese Frage seit längerem. Der Ire ist seit 15 Jahren in Krakau, zuletzt hat er für GE Healthcare ein Zentrum aufgebaut, nun tut er das Gleiche für das britische Finanzhaus IG Group. «Ein Grund liegt in den Kosten», sagt McCoy unumwunden. Die Auslagen – im Wesentlichen für Personal und Büroräumlichkeiten – lägen bei rund 40% des Niveaus von London oder Zürich. Das hat Krakau gerade in der Finanz- und Wirtschaftskrise als Standort attraktiv gemacht, denn viele westliche Grosskonzerne waren zu Kostensenkungen gezwungen.
Krakau sei aber mittlerweile kein Niedriglohn-Standort mehr, erklärt McCoy. Die Firmen kämen auch wegen der Qualität hierher. Man finde viel fähiges Personal. Die traditionsreiche Universitätsstadt verfügt über gute technisch-naturwissenschaftliche Hochschulen, die 200 000 Studenten gelten als solide ausgebildet und sprachgewandt. Gleichzeitig hat sich laut McCoy ein dichtes «Ökosystem» herausgebildet. Neben langjähriger Expertise in Outsourcing und IT hat Krakau eine dynamische Internet-Startup-Szene und aufstrebende Biotechfirmen vorzuweisen. Manch ein Beobachter wagt es gar, gewisse Parallelen zum Silicon Valley zu ziehen.
Krakau vermag viele Menschen auch dank der Schönheit der alten Königsstadt anzuziehen. Schliesslich profitiert man von allgemeinen Stärken des Standortes Polen, etwa dem guten Wirtschaftsklima, der Grösse des Marktes und der investorenfreundlichen Politik. Laut McCoy schätzen interessierte Firmen etwa an Polen, dass man hier für ein SSC oder IT-Zentrum Auswahl zwischen vielen Städten habe. In Ungarn gebe es nur Budapest, in Bulgarien nur Sofia. In Polen hingegen fänden sich mehrere Standorte.
Für Polen hat der Erfolg der Outsourcing- und IT-Branche eine breitere Bedeutung. Er gibt ein gutes Beispiel dafür ab, wie sich das Land seit dem Fall des Eisernen Vorhangs auf der globalen Wertschöpfungskette nach oben gearbeitet hat. Man muss sich dazu vor Augen halten, dass sich die polnische Wirtschaft nach der Wende in einem desolaten Zustand befand. Für bevorzugte sozialistische Industrien wie die Werften, die Stahlbranche oder die Kohleminen brach eine harte Zeit des Strukturwandels an .
Wandernde Tätigkeiten
Seither hat sich Polen aber zu einer wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte gemausert. Dafür waren einerseits die beherzten marktwirtschaftlichen Reformen der Ära Balcerowicz verantwortlich. Anderseits entstand ein dynamischer Unternehmenssektor – in Polen besonders in Form von Klein- und Mittelbetrieben –, der die alten Branchen abzulösen vermochte. Was in Polen heute industriell gefertigt wird, kommt im Vergleich mit den sozialistischen Zeiten einer Revolution gleich. So ist man etwa in der Automobilproduktion stark in eine deutsch-ostmitteleuropäische Wertschöpfungskette integriert. Umgekehrt kämpft das Land immer noch mit einem viel zu grossen und wenig produktiven Landwirtschaftssektor.
Der Erfolg der Outsourcing- und IT-Branche zeigt, dass man ebenfalls im Dienstleistungsbereich vorankommt. Der Aufstieg in der globalen Wertschöpfungskette lässt sich auch innerhalb dieser Branche beobachten. Als Ende der 1990er Jahre die ersten Shared-Service-Center in Krakau entstanden, begann man mit relativ einfachen Tätigkeiten. Die Mitarbeiter wickelten für das westliche Mutterhaus etwa die Rechnungsstellung oder simple Buchhaltungsaufgaben ab.
Heute kümmern sich die Zentren um deutlich komplexere Aufgaben wie Finanzplanung oder Controlling. Gleichzeitig sind die einfacheren Tätigkeiten in der globalen Wertschöpfungskette bereits weitergewandert. Sie werden etwa in Indien oder auf den Philippinen erledigt, wo es günstiger ist. Auch geben sich die polnischen Mitarbeiter offenbar mit einfachen Tätigkeiten nicht mehr zufrieden, sie fordern eine interessante und anspruchsvolle Arbeit.
Ein Nullsummenspiel?
Krakaus Aufstieg wirft einige grundsätzliche Fragen zur Stellung eines Transformationslandes wie Polen in der globalen Wertschöpfungskette auf. Man mag sich jetzt über die neuen Arbeitsplätze freuen, aber sind diese in der globalisierten Welt nicht auch schnell wieder weg? In der Krakauer Szene nimmt man den Einwand durchaus ernst. Aber man verweist darauf, dass dies schlicht der Realität der Globalisierung entspreche. So verliere Krakau bereits jetzt gewisse Aktivitäten an Standorte weiter im Osten. Entscheidend sei deshalb, dass man sich selbst auf der Wertschöpfungskette weiter nach oben arbeite.
Droht der Boom in Krakau an Grenzen zu stossen? Gewisse Anzeichen sind erkennbar, so steigen die Löhne und Mieten und damit die Kosten für die Unternehmen. Doch laut den Branchenexperten hält sich der Anstieg im Rahmen. Andrew Hallam von Aspire hält das Argument der Sättigung ohnehin nicht für stichhaltig. Er glaubt vielmehr an das Phänomen der kritischen Masse: Krakau habe diese erreicht, und das werde in den kommenden Jahren für eine grosse Anziehungskraft und viel Wachstum sorgen. Firmen wollen demnach hierherkommen, gerade weil andere schon erfolgreich sind und sich ein Cluster von Fähigkeiten gebildet hat.
Schliesslich: Geht der Outsourcing-Boom in Polen nicht auf Kosten von gutbezahlten Büroangestellten im Westen? Natürlich werden durch die Verlagerungen «white-collar workers» in Zürich oder London überflüssig. Aber in Krakau wird richtigerweise betont, dass es sich beim globalen Wettbewerb nicht um ein Nullsummenspiel handelt. Der Aufstieg von Städten wie Krakau bedeutet, dass man sich in Zürich oder London eben auch auf der Wertschöpfungskette weiter nach oben arbeiten muss. Die Einsicht ist nicht neu: Wettbewerb treibt Produktivitätssteigerungen an, und diese stehen letztlich hinter dem Wachstum des wirtschaftlichen Wohlstandes. So profitieren nicht nur Länder wie Polen von der globalen Arbeitsteilung, sondern auch die Menschen im Westen.
Zufall statt Staatsplanung
Der Aufstieg Krakaus als Outsourcing- und IT-Standort kam eher wundersam zustande. Wie etwa Branchenveteran McCoy betont, war die Entwicklung nicht das Ergebnis eines durchdachten staatlichen Plans. Sie entstand vielmehr «von unten» als ein mehr oder weniger spontaner, sich selbst verstärkender Prozess. Es hätten einfach mehr und mehr Unternehmen das hiesige Geschäftspotenzial erkannt.
Zwar spielten besonders für die ersten Ansiedlungen staatliche Anreize eine Rolle. In Polen gibt es dazu Sonderwirtschaftszonen, die Firmen bei Neuansiedlungen Förderungen gewähren. Für die wirtschaftliche Transformation Polens war dieses Instrument nicht unwesentlich. Im Jahr 1998 schuf man in Krakau erstmals eine Sonderwirtschaftszone nicht für Industrie-, sondern für Dienstleistungsfirmen. Dies gilt als wichtiger Grund, warum dann mit Motorola erstmals ein westlicher Grosskonzern angezogen werden konnte.
Heute spielen die staatlichen Förderungen aber nur noch eine untergeordnete Rolle, wie verschiedene Branchenvertreter erklären. Der Standort Krakau scheint die Kraft aus sich selbst zu schöpfen. Damit passt er gut ins grössere Bild Polens. Vieles hat sich hier in den vergangenen 25 Jahren nicht wegen staatlicher Programme zum Besseren gewendet – sondern wegen des weitverbreiteten unternehmerischen Drives.

http://www.nzz.ch/wirtschaft/wirtschaftspolitik/polens-mirakuloeser-aufstieg-in-der-globalen-wertschoepfungskette-1.18630435

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